Online-Version unseres Artikels „Fünf Jahre später“ aus der Broschüre „Leipziger Zustände 2021“ von chronik.LE, S. 82-85. Hier als PDF mit Foto und den im Text erwähnten Grafiken. Die Broschüre ist Anfang 2021 erschienen. Redaktionsschluss für den Text war Oktober 2020.
Der Beitrag wurde am 16. Januar 2021 bei der Kundgebung „Nazihools – Die längste letzte Reihe der Welt“ von „Rassismus tötet!“ – Leipzig in Connewitz vorgetragen. Auf der Kundgebung wurden in Form eines Schauspiels einige typische #le1101prozess-Verhandlungen dargeboten. Einen Audio-Mitschnitt davon gibt es hier bei la-presse.org.
Fünf Jahre später
Die juristische Abarbeitung des Neonazi-Angriffs auf Connewitz
von prozess1101.org
„Heute standen wir […] vor verschlossenen Saaltüren. Der Prozess, der ursprünglich im Mai beginnen sollte, scheint also wieder mal verschoben worden zu sein.“ (August 2019)
„Als Seitennotiz kam im heutigen #le1101prozess zu Tage, dass Christian S. den JVA Beamten Kersten H. auf der Demo getroffen habe und ihn aus seinem Freundeskreis kenne.“ (September 2019)
„Der Justizbeamte Kersten H. erschien auch im heutigen Prozess nicht vor Gericht. Eine halbe Stunde vor Beginn ließ er über eine Freundin mitteilen, er habe ‚Magen-Darm‘. Die Zwangsvorführung scheiterte, weil H. nicht zu Hause anzutreffen war.“ (Januar 2020)
„Auch in dieser Woche finden einige angesetzte #le1101prozess-Verhandlungen nicht statt. Am Donnerstag fällt der Prozess gegen den Justizbeamten H. sowie den Freefighter Christopher H. und Danny L. am Amtsgericht Leipzig aus.“ (April 2020)
Die Zitate stammen von unserem Twitter-Account @1101prozess.
Zum Erscheinen dieses Artikels sind bereits fünf Jahre verstrichen, seit am 11. Januar 2016 bis zu 300 Neonazis, Hooligans und Kampfsportler den Leipziger Stadtteil Connewitz angegriffen haben.
Damals findet parallel in der Innenstadt die Kundgebung zum einjährigen „Jubiläum“ des Leipziger PEGIDA-Ablegers LEGIDA statt. Die währenddessen durch Connewitz marschierenden Neonazis greifen in einer konzertierten Aktion vermeintliche Linke an, zerstören Autos und Geschäfte. Dabei entsteht laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ein Sachschaden von rund 113.000 Euro. Mindestens drei Menschen werden verletzt, einer von ihnen von einem Metallgeschoss, das sein Wohnzimmerfenster durchschlägt und ihm eine Brandverletzung zufügt.
Schnell ist klar: Es handelt sich um organisierte Gewalttat, zu der überregional mobilisiert wurde. Unter den Tätern und einer Täterin befinden sich unter anderem Neonazis aus Berlin und Thüringen. Noch am Tatabend werden 215 Personen, die vor der heranrückenden Polizei über die Auerbachstraße fliehen wollten, in Gewahrsam genommen. Zwei weitere Beteiligte werden nachträglich ermittelt – trotz der miserablen Spurensicherung am Tatort, die für die folgenden juristischen Verhandlungen gravierende Konsequenzen bedeutet. Anwohner*innen berichten, dass mehrere Kleingruppen von insgesamt etwa 60-80 Tätern unerkannt entkommen konnten.[1]
Für den anreisenden Mob gab es mehrere Vortreffpunkte, der wichtigste auf einem Parkplatz nahe der Autobahnabfahrt Naunhof. Laut mehreren übereinstimmenden Aussagen von Angeklagten vor Gericht wurden hier von Vermummten Zettel mit der Beschreibung des weiteren Wegs ausgegeben. Navigationsgeräte sollten deaktiviert werden, woran sich aber mangels Ortskenntnis nicht alle hielten. Hier habe auch eine Tüte mit Steinen bereit gestanden, aus der man sich bedienen konnte. Bis heute ist unklar, wer auf diesem Parkplatz die Ansagen gemacht und Regie geführt hat.
Die Justiz im Schneckentempo
Zweieinhalb Jahre nach der Tat beginnen im August 2018 vor dem Amtsgericht Leipzig die Verhandlungen im Connewitz-Prozess. Den Angeklagten wird jeweils ein besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs vorgeworfen. Die juristische Aufarbeitung gleicht einem wenig ergiebigen Marathon im Schneckentempo. In der Regel stehen zwei Angeklagte zusammen vor Gericht. Bei über 200 Anklagen führt dies zu rund 100 Verfahren vor dem Amtsgericht Leipzig sowie in einigen Fällen vor den Amtsgerichten Eilenburg, Torgau und Grimma. Hinzu kommen Berufungsverfahren am Landgericht Leipzig. Ein geringer Teil der Verfahren wurde nach Dresden abgegeben und wird dort im Zuge der Prozesse gegen die kriminelle Vereinigung „Freie Kameradschaft Dresden“ (FKD) verhandelt.
Die Justiz zeigt sich von der großen Zahl an Verfahren und Angeklagten überfordert. Dies räumt der Richter Marcus Pirk im Juni 2019 selbst ein: „Streng genommen sind wir als Gericht gar nicht in der Lage, all diese Verfahren vollumfänglich zu führen.“[2] Eine reguläre, umfassende Beweisaufnahme ist für das Amtsgericht nicht machbar. So wurden in den ersten Prozessen noch ausführlich Zeug*innen gehört: Einerseits Polizeibeamt*innen, die an dem Einsatz am 11. Januar 2016 in Leipzig oder der Auswertung der spärlichen Beweismittel beteiligt waren, andererseits Anwohner*innen und weitere Augenzeug*innen des Angriffs. Um die Verfahren zu beschleunigen, wurde jedoch bald zum Mittel der Verfahrensabsprachen gegriffen: Sofern sich die Angeklagten „geständig“ einlassen, werden ihnen Bewährungsstrafen innerhalb eines vereinbarten Rahmens in Aussicht gestellt.
Ein Netzwerk von Einzeltätern
Das Resultat dieser Strategie sind in den meisten Fällen jedoch nur Pro-Forma-Geständnisse. Die Angeklagten geben zwar zu, in Connewitz dabei gewesen zu sein. Sie hätten aber selbst keine Gewalttaten verübt und vorher auch nicht gewusst, dass so etwas geplant sei. Die meisten geben an, sie hätten zu der LEGIDA-Kundgebung gewollt. Von dem Marsch durch Connewitz hätten sie von Freunden oder aus einer Nachricht über Whatsapp erfahren. Fragen nach Drahtziehern, so sie den überhaupt gestellt werden, bleiben unbeantwortet. Von wem die Whatsapp-Nachricht kam, will niemand gewusst haben. Im März 2019 sagt eine Staatsanwältin bei der Befragung eines Angeklagten resigniert, sie erwarte ja gar nicht, dass er Namen nennen würde.
So behaupten die Angeklagten regelmäßig, sie hätten sich in der letzten Reihe des Mobs befunden und nicht erkannt, wer um sie herum die Straftaten begangen habe. Überhaupt habe man niemanden gekannt. Ein angehender Jurist will sich aus Angst nicht getraut haben, die Gruppe zu verlassen, als die Ausschreitungen losgingen. Dabei nimmt er als Kampfsportler selbst an Wettkämpfen teil. Fotos von einem solchen Kampf zeigen ihn mit einschlägigen Tattoos auf dem Oberkörper. Trotz Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten (bestätigt durch Landgericht und Oberlandesgericht) darf er noch sein Referendariat beenden und zum zweiten Staatsexamen antreten.
Die angeblichen Einzeltäter stammen allesamt aus einem Konglomerat aus rechten Fußballfans (vor allem von Lok Leipzig, Dynamo Dresden, Hallescher FC und Rot Weiß Erfurt), Hooligans und Kampfsportlern (unter anderem „Faust des Ostens“, „Scenario Lok“, „Jungsturm Erfurt“, „Imperium Fight Team“) sowie neonazistischen, rechtsterroristischen Gruppierungen wie der „Freien Kameradschaft Dresden“ oder der „Gruppe Freital“.[3] Offenbar gibt es eine Vernetzung zwischen diesen Akteuren und Gruppierungen, die in der Lage ist, mehr oder weniger klandestin so einen Angriff zu organisieren. Die Sicherheitsbehörden wollen davon im Vorfeld zumindest nichts mitbekommen haben. Und auch nach dem Angriff lieferten die Ermittlungen nur dürftige Erkenntnisse.
Strafen, Befehle und Bewährungen
Immer wieder sind seit Beginn der Connewitz-Prozesse Verhandlungen ausgefallen oder verschoben wurden. Von den insgesamt 217 Angeklagten sind bis zum 10. September 2020, über viereinhalb Jahre nach der Tat, laut Angaben des Justizministeriums erst 114 Personen rechtskräftig verurteilt. In 19 Fällen stand zu diesem Zeitpunkt die Berufung noch aus, in zwei Fällen war die Frist zur Einlegung von Rechtsmitteln gegen das Urteil in erster Instanz noch nicht abgelaufen.[4]
Die meisten Verfahren fanden am Amtsgericht Leipzig statt. Am Amtsgericht Eilenburg wurden acht, in Torgau zwei und in Grimma eine Person verurteilt. Am Landgericht und Amtsgericht Dresden sowie Pirna wurden insgesamt fünf Personen rechtskräftig verurteilt. In Dresden wurden die Angriffe auf Connewitz im Zuge der mittlerweile vier Prozesse gegen Mitglieder der „Freien Kameradschaft Dresden“ mit verhandelt.[5]
Ein Angeklagter ist zwischenzeitlich verstorben. Somit steht mit Stand 10. September 2020 für 81 Beteiligte am Überfall auf Connewitz das Verfahren in erster Instanz noch aus (siehe Grafik 1). Darunter sind mehrere bekannte Neonazis wie Thomas K., Mitglieder des „Imperium Fight Teams“ oder der Justizbeamte Kersten H. Von dessen Beteiligung am Angriff auf Connewitz erfuhr das Justizministerium erst kurz vor seinem ersten angesetzten Verhandlungstermin im Januar 2019. Seitdem ist H. suspendiert, der Prozess gegen ihn wurde mehrfach verschoben.
Berufung haben von Seiten der Angeklagten vor allem diejenigen Verurteilten eingelegt, die sich vor dem Amtsgericht nicht zur Tat eingelassen haben und zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. In der Regel bezieht sich die Berufung in diesen Fällen nur auf die Höhe des Strafmaßes. Das Urteil selbst wird also ebenso anerkannt wie die Beteiligung an dem Überfall. Aufgrund dieses technischen Geständnisses wird das Urteil aus erster Instanz dann vom Landgericht meist zur Bewährung ausgesetzt. Bis es soweit kommt, vergeht oft nochmal eine längere Zeit, in der das Urteil aus erster Instanz nicht vollstreckt wird. So wurden zwei Angeklagte im Februar 2019 vom Amtsgericht Leipzig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Termin für die Berufungsverhandlung steht in diesem Fall aber immer noch aus.
In Grafik 2 sind nur die rechtskräftigen Urteile und Strafbefehle (110) aus dem Bereich der Staatsanwaltschaft Leipzig (AG Leipzig, Eilenburg, Torgau und Grimma) dargestellt. Die zeitliche Entwicklung ist zur besseren Übersicht im halbjährlichen Verlauf zusammengefasst und entspricht unserem Wissensstand bis zum 10. September 2020 (das zweite Halbjahr 2020 ist also nur teilweise erfasst).
Die Anzahl der rechtskräftig abgeschlossenen Urteile steigt im Zeitverlauf kontinuierlich an. Im ersten Halbjahr 2020 ist dies jedoch nur aufgrund der hohen Zahl von 21 Strafbefehlen (ohne Präsenzverhandlung oder in Abwesenheit des Angeklagten) der Fall. Ein Grund dafür ist vermutlich die Covid-19-Pandemie und das Bemühen, auf unnötige Kontakte zu verzichten. Trotzdem ist der Verzicht auf Hauptverhandlungen und damit der Ausschluss der Öffentlichkeit angesichts des Tatvorwurfs (schwerer Landfriedensbruch mit über 100.000 Euro Sachschaden) äußerst fragwürdig.
Insgesamt machen Bewährungsstrafen (von acht Monaten bis zu einem Jahr und elf Monaten) den Großteil der verhängten Strafen aus: In gut zwei Dritteln der Fälle im Ergebnis von Hauptverhandlungen (74 Urteile) sowie in 24 Fällen über Strafbefehle. Acht Angeklagte wurden zu Geldauflagen, Verwarnungen oder Sozialstunden verurteilt. Zwei Personen wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt sind. Dabei handelt es sich in einem Fall um eine Einheitsjugendstrafe von drei Jahren (AG Torgau), im anderen Fall um eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren (AG Leipzig, Berufung am LG Leipzig). Neben dem schweren Landfriedensbruch in Connewitz sind in diesen Fällen also noch weitere Straftaten ins Urteil eingeflossen.
Rechte Rechtsanwälte
Die Angeklagten lassen sich vor Gericht durch eine bunte Mischung von Anwält*innen vertreten. Während sich die meisten darauf beschränkten, für ihre Mandaten ein möglichst mildes Urteil herausschlagen, ziehen andere die Prozesse beispielsweise durch Befangenheitsanträge gegen die Richter*innen in die Länge. Wieder andere Anwält*innen nutzen den Prozess, um sich selbst zu profilieren. So schwadronierte ein Anwalt aus Dresden in seinem halbstündigen Abschlussplädoyer unter anderen über seinen Vater und die vom „Denkerstaat“ entrückte Jugend, nur um am Ende gar nichts konkretes zu fordern.
Aber auch bekannte rechte Szeneanwälte waren bereits als Verteidiger im Connewitz-Prozess zu erleben. Darunter Frank Hannig aus Dresden (ehemaliger Verteidiger des Angeklagten Stephan E. im Prozess wegen Mordes am CDU-Politiker Walter Lübcke), Olaf Klemke aus Cottbus (Verteidiger von Ralf Wohlleben im NSU-Prozess), Andreas Wölfel (DB-Burschenschafter), Wolfram Nahrath (ehem. Vorsitzender der Wiking-Jugend und ebenfalls Verteidiger von Ralf Wohlleben im NSU-Prozess) und Dirk Waldschmidt (ehem. hessischer NPD-Kader, vor Hannig kurzzeitig Verteidiger von Stephan E. im Lübcke-Prozess). Waldschmidt fiel durch die Bemerkung auf, er bereue es, angesichts der Lage des Amtsgerichts in der Südvorstadt unweit von Connewitz keine „9 Millimeter“ eingepackt zu haben.[6]
Der Vorhang zu und viele Fragen offen
Von einer ernsthaften Aufarbeitung des organisierten Angriffs auf Connewitz kann fünf Jahre später keine Rede sein. Vielmehr werden die Anklagen an den verschiedenen Gerichten wie am stockenden Fließband abgearbeitet. Bis heute sind viele Fragen offen: Wer hat den Angriff organisiert? Wie lief die Vernetzung der Beteiligten? Wer hat in Naunhof Ansagen gemacht und Steine verteilt? Diese Fragen werden vermutlich nie aufgeklärt.
Das öffentliche Interesse an den Prozessen hat aufgrund der sich hinziehenden Verhandlungen schnell nachgelassen. Einzelne Versuche, durch Kundgebungen vor dem Amtsgericht oder eine Demonstration unter dem Motto „Die längste letzte Reihe der Welt“ in Connewitz, eine konsequente strafrechtliche Verfolgung einzufordern, haben wenig gebracht. Trotzdem sind solche Aktionen wichtig, um Aufmerksamkeit für die immer noch laufenden Prozesse herzustellen. Glücklicherweise beteiligen sich zuletzt wieder mehr Personen an der Prozessbeobachtung.
Die konsequente Bekämpfung neo-nazistischer Gewalt braucht eine aktive, kritische Öffentlichkeit genauso wie eine ambitionierte Justiz, die gewillt ist, alle rechtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Täter dingfest zu machen.
Die Gruppe „Prozess1101“ beobachtet und dokumentiert den Prozess zum Angriff auf Connewitz am 11. Januar 2016. Auf der Website www.prozess1101.org finden sich Verhandlungstermine und Prozessberichte.
[1] Vgl. den Artikel „Der Angriff auf Connewitz“ in der vorigen Ausgabe der Leipziger Zustände (2019), S. 46/47.
[2] Aus der taz vom 01.07.2019: Prozesse gegen rechte Hooligans: „Wir sind wegen den Zecken hier!“
[3] Eine gute Übersicht bietet die Grafik zum Kreuzer-Artikel „Nazis, Schläger, Ideologen“ vom 16.10.2016.
[4] Vgl. Kleine Anfrage von Juliane Nagel „Stand der Prozesse (und Ermittlungen) in Sachen neonazistischer Angriff in Leipzig-Connewitz am 11. Januar 2016“ (Drs. 7/3624).
[5] Vgl. dazu die Übersicht des „Antifa Recherche Team Dresden“ (naziwatchdd.noblogs.org) vom 02.10.2020: „Freie Kameradschaft Dresden“ abgeurteilt.
[6] Vgl. Kreuzer-Online vom 23.02.2019: Rechtspflege.