Vor drei Jahren verübten Neonazis im Stadtteil Connewitz einen der größten rechtsextremen Angriffe der vergangenen Jahre. Seit August 2018 laufen am Amtsgericht Leipzig die ersten juristischen Prozesse. Eine umfangreiche Aufklärung steht jedoch in weiter Ferne.
Von Prozessbeobachtungsgruppe
Als am 11. Januar 2016 der Leipziger Pegida-Ableger Legida im Stadtzentrum seinen ersten Jahrestag feierte, u.a. mit einem Auftritt von „Kategorie C“-Sänger Hannes Ostendorf, verübten rechte Schläger im Stadtteil Connewitz einen der größten Angriffe der vergangenen Jahre in Leipzig. 250 bis 350 Neonazis aus Sachen und weiteren Bundesländern randalierten im linksgeprägten Leipziger Süden. Bewaffnet mit Totschlägern, Zaunlatten, Messern, mindestens einer Axt und Sprengsätzen griffen sie Läden, Autos und auch Personen an. Es entstand ein Sachschaden von über 100.000 Euro. 215 von ihnen wurden noch am Abend von der Polizei festgesetzt, ein nicht unbedeutender Teil entkam.
Im vergangenen Jahr, also zwei Jahre nach dem Überfall auf Connewitz, hat die Staatsanwaltschaft Leipzig gegen 202 der festgesetzten Neonazis Anklage wegen besonders schwerem Landfriedensbruch erhoben. In den meisten Fällen müssen sich jeweils zwei Personen gleichzeitig vor Gericht verantworten, so dass mindestens 103 Prozesse angesetzt sind. Einige Tatverdächtige müssen sich in Dresden im Rahmen der Prozesse gegen die Mitglieder der sogenannten Freien Kameradschaft Dresden (FKD) verantworten.
Die meisten Prozessen werden am Amtsgericht Leipzig verhandelt (85 Prozesse, 167 Angeklagte), weitere an den Amtsgerichten im Leipziger Umland (Torgau, Eilenburg und Grimma). Seit August haben in Leipzig erst sechs Prozesse gegen zwölf Personen stattgefunden. Pro Monat also nicht viel mehr als ein Prozess. Im ersten Prozess mit zwei Verhandlungstagen weigerten sich die Angeklagten noch auszusagen. In der Folge wurden einige Zeug_innen geladen, darunter Polizist_innen und Anwohner_innen. Die Angeklagten Martin K. und Dennis W. wurden schließlich zu Haftstrafen in Höhe von 1 Jahr und 8 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Nach diesem „Exempel“ änderte sich die Strategie der Verteidigung ebenso wie die Länge der Verhandlungen und die Urteile des Gerichts.
Seit dem zweiten Prozess im September gibt es vorab Verständigungsgespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten. Hierbei sichert das Gericht Bewährungsstrafen in Höhe von 1 Jahr und 3 Monaten bis zu 1 Jahr und 8 Monaten zu. Als Bedingung gesetzt wird den Angeklagten, dass sie sich geständig zeigen müssen. Diese „Einlassungen“ beinhalteten bisher jedoch nicht mehr als zuzugeben: „Ich war vor Ort“. Ein Sachverhalt, der schon durch die Identitätsfeststellung der Polizei klar war. Wer in den Prozessen auf umfangreiche Geständnisse, auf Einblicke in den organisatorischen Ablauf und die zentralen Kader hofft, wird enttäuscht. Nach wie vor sind die zentralen Fragen offen: Welche Rolle hat der Angeklagte vor Ort gespielt, welchen Schaden richtete er an? Wie stark war er in die Organisation eingebunden? Welche Strukturen waren an den Zerstörungen beteiligt?
Wirkliche Erkenntnisse dazu gab es bisher kaum. Die Geständnisse der Angeklagten laufen fast immer nach dem Schema „Ich weiß nicht, von wem die SMS kam“, „Ich kannte niemanden“ und „Ich habe keine Gewalttaten begangen“ ab. Fragen wie „Haben Sie Waffen erkennen können?“ oder „Was war ihr Ziel?“ werden mit „Nö“, „Öhm, nee“ oder „Wir wollten Präsenz zeigen“ beantwortet. Dem Leipziger Jurastudenten Brian E., der kurz vor seinem Prozess sein Rechtsreferendariat in Chemnitz begonnen hatte, wurde Gericht beispielsweise die Frage gestellt, warum er sich nicht gegenüber der Polizei zu erkennen gegeben habe, als es zur Kesselung kam, wenn er an der ganzen Sache doch nicht teilnehmen wollte. Seine Antwort? Ungefähr so: „Ich hab mich nicht getraut, da waren etliche Kämpfer dabei mit nem massiven Kreuz und ich hatte Angst vor Gewalt aus den eigenen Reihen.“ Auch wenn die Staatsanwaltschaft hin und wieder darauf hinweist, dass sie solchen Aussagen nicht glaubt, bleiben Schutzbehauptungen wie diese unhinterfragt. Brian E., der selbst seit etlichen Jahren Kampfsport betreibt und das Erscheinungsbild eines Hünen hat, konnte sich erfolgreich als bedrohtes Küken fremder Antifa-Mächte inszenieren. Dieser Argumentation folgen bisher alle Angeklagten in ihren Einlassungen: Vom Tatort hätten sie sich deshalb nicht entfernt, weil sie sich in Connewitz nicht auskannten und Angst vor gewalttätigen Linken gehabt hätten. Das Gericht bestärkt diese Darstellungen mit Mutmaßungen darüber, dass es nur deshalb nicht zu einem „Blutbad“ gekommen sei, weil glücklicherweise keine Linken vor Ort waren.
Zwar wird durchaus benannt, dass die Angeklagten aus einem rechten Milieu stammen und bewusst in einen linken Stadtteil gezogen sind, der politische Hintergrund also nicht ausgeblendet. Dass es sich um organisierte Neonazis handelt, wird jedoch bisher nicht beleuchtet. Gleichzeitig wird vor angeblich gefährlichen „Linksextremen“ gesprochen und der Überfall auf Connewitz auf diese Weise verharmlost. In Connewitz, der „Hochburg der Leipziger Linken“, so heißt es in der Urteilsverkündung vom 29.10.2018 gegen Andreas M. und Jens W. zum Beispiel, würden Baseballschläger zur Standardausrüstung jeder linken WG gehören.
Eine Ausnahme von den spärlichen Geständnissen bildete bisher nur die Verhandlung gegen Eric H. Der zum Tatzeitpunkt 18-Jährige hat im bisher letzten Prozess im Dezember ausführlicher ausgesagt. Laut eigener Aussage habe er sich inzwischen von seinem rechten Fußball-Freundeskreis distanziert. Dem mittlerweile 20-Jährige, der von seinen Eltern zum Prozess begleitet wurde, wird vom Gericht ein Entwicklungsdefizit zugeschrieben. Er soll mit einem gebrochenen und eingegipsten Arm in Connewitz festgesetzt worden sein. H.s Aussage gibt zumindest einen kleinen Einblick in den Ablauf der Geschehnisse und die Organisation und Planung dahinter. Von der Verabredung, nach Connewitz zu ziehen, will er über einen „Lok Leipzig“-Chat bei Whatsapp erfahren haben. Über diesen seien sonst auch Mobilisierungen zu Legida gelaufen. Er habe gedacht, dass eine Demonstration von Connewitz zur Legida-Kundgebung in der Innenstadt stattfinden sollte. Ein Kumpel habe ihn mit seinem Auto abgeholt. An einem Treffpunkt an der Autobahnraststätte Naundorf hätten drei Personen eine Ansprache gehalten und Routenbeschreibungen für die Fahrer verteilt. Unter der Masse, die durch die Wolfgang-Heinze-Straße marschiert ist, soll es einen Teil von etwa 20 Personen gegeben haben, die auf ein Kommando hin losgestürmt sind und zielgerichtet Läden angegriffen hätten.
Bisher wurden von den über 200 Angeklagten in Leipzig lediglich elf Personen verurteilt, bis auf die ersten beiden jeweils ausgesetzt zur Bewährung. Es ist außerdem davon auszugehen, dass manche Verurteilte in Berufung gehen werden. Fest steht, dass sich die Prozesse noch jahrelang hinziehen werden. Aktuell findet am Amtsgericht Leipzig etwa aller zwei Wochen eine Verhandlung am Amtsgericht Leipzig statt – oder ist zumindest geplant. Die für den 10. Januar angesetzte Verhandlung gegen Kersten H. und Daniel W. wurde kurzfristig auf Juli verschoben. Als Grund dafür wurde die Erkrankung eines Verteidigers angegeben.
Um so nötiger ist weiterhin eine kritische Begleitung der Prozesse, um auf problematische Aussagen, offene Fragen und fragwürdige Absprachen aufmerksam zu machen. Auf dieser Seite (prozess1101.org) werden nach und nach alle bisherigen Prozesse dokumentiert und ergänzende Informationen bereitgestellt.